SAICM EPI Fachgespräch 2018 zu Chemikalien in Bauprodukten
Das SAICM EPI Fachgespräch 2018 „Chemikalien in Bauprodukten - was können deutsche Unternehmen und Verbände gegen Risiken tun?“ fand am 11. April 2018 im Bundesumweltministerium in Berlin statt.
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Der Strategische Ansatz zum internationalen Chemikalienmanagement (SAICM)
ist ein völkerrechtlich nicht bindendes, übergreifendes politisches Rahmenwerk zur Einbindung aller betroffenen Sektoren und Akteure. Es dient der Umsetzung der Ziele der Agenda 2020 zum Chemikalienmanagement, die von der Staatengemeinschaft auf dem UN-Gipfel für nachhaltige Entwicklung im Jahr 2002 in Johannesburg beschlossen wurden. Danach strebt die Staatengemeinschaft an, bis zum Jahr 2020 Chemikalien so zu nutzen und zu produzieren, dass erhebliche negative Effekte für die menschliche Gesundheit und die Umwelt minimiert werden.
SAICM ist keine nur von nationalen Regierungen bestimmte Initiative, sondern ein „Multi Stakeholder Approach“, bei dem u.a. die chemische Industrie, Umweltverbände und Gewerkschaften mitwirken. Es geht dabei nicht um die Verabschiedung zusätzlicher verbindlicher Regelwerke, sondern um einen global verantwortungsvolleren Umgang mit Chemikalien auf freiwilliger Basis.
Das Umweltbundesamt (UBA) ist der sog. National Focal Point, die Anlaufstelle für SAICM in Deutschland (in Person Hans-Christian Stolzenberg, Leiter des Fachgebiets IV 1.1 „Internationales Chemikalienmanagement“ im UBA). Aufgabe der National Focal Points ist es, die Umsetzung von SAICM auf nationaler Ebene zu unterstützen und voranzubringen.
Deutschland kommt zudem eine besondere Rolle zu, da Frau Ministerialdirektorin Gertrud Sahler (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, BMUB) die Präsidentschaft der 5th International Conference on Chemicals Management (ICCM) im Jahr 2020 innehat. Nähere Informationen zur Präsidentschaft und zu den ICCM’s finden sich unter www.saicm.org.
SAICM Emerging Policy Issue-Fachgespräche
Die Fachgespräche sind Teil der Aufgabenwahrnehmung des UBA als SAICM National Focal Point. Sie dienen unter anderem der Vernetzung relevanter Akteure und der Dokumentation von Fortschritten in der Umsetzung von SAICM auf nationaler Ebene. Die Fachgespräche sollen aus Sicht des UBA aber vor allem auch dazu dienen, die Sichtweisen und Ideen der deutschen Stakeholder zu ausgewählten Themen zusammen zu tragen. Idealerweise werden dabei Handlungsempfehlungen entwickelt und konkrete Projekte zur Erreichung der SAICM-Ziele angestoßen. Beides nicht nur mit Blick auf Deutschland, sondern darüber hinausgehend, der Idee von SAICM und der Tatsache folgend, dass sich die meisten dort in den Blick genommenen Herausforderungen nur global bewältigen lassen.
Emerging Policy Issue “Chemicals in Products” (CiP)
Zu den Aufgaben der ICCM’s gehört es, zu geeigneten Maßnahmen zur Lösung aufkommender prioritärer Politikthemen (sogenannter Emerging Policy Issues, EPI) aufzurufen. Eine dieser von der ICCM benannten prioritären Themen ist der Umgang mit gefährlichen Chemikalien (CoC – Chemicals of Concern) in Produkten (CiP – Chemicals in Products). Dabei konzentriert sich SAICM auf die Bereiche Textilien, Spielzeug, Elektronikgeräte und Chemikalien in Bauprodukten. Das generelle Problem wird wie folgt beschrieben: „A common root problem to addressing this need for CiP is the lack of information exchange on the materials and chemicals used to produce. In many cases the documentation of the presence of hazardous chemicals does not exist or is insufficient to control them throughout complex supply chains. Moreover, when CiP information is exchanged (within the production phase), this frequently does not lead to information being made available outside the supply chain, nor necessarily to sound management of this information. There are still knowledge and actions gaps within the value chains and especially in the use and end-of life-stage of products. The measures to reduce CoC in products need to take into account the whole value chain. While regulatory measures have been taken in developed countries in recent years, many developing countries and countries with economies in transition are lacking policy frameworks to implement CiP measures.” (UNEP/GEF: Chemicals in Products: Strengthening Action Workshop. Background Paper, 25.-26.10.2017, Genf)
Nach dem von lebhaften Diskussionen gekennzeichneten Fachgespräch “Pharmaka in der Umwelt”, an dem sich über 50 Akteure aus Hochschulen, Pharma-Unternehmen, Behörden, Krankenkassen und zahlreichen betroffenen Verbänden (Pharma-Hersteller, Krankenhaus-Gesellschaft,…) beteiligten, steht im zweiten Fachgespräch am 11. April 2018 in Berlin das Thema Bauprodukte bzw. Chemikalien in Bauprodukten im Fokus. Die Akteure – siehe Schema – sind meist zu ganz unterschiedlichen Zeiten innerhalb der Bau-, Nutzungs- bzw. Rückbauphase eines Gebäudes aktiv. Am Fachgespräch beteiligten sich vor allem Akteure aus der Herstellung von Bauchemikalien und Bauprodukten, den diversen für die technische Beurteilung und Normensetzung verantwortlichen Institutionen, aus der Wissenschaft, dem Arbeitsschutz und dem Verbraucherschutz.
Chemikalien in Bauprodukten
Nach der EU-BauPVO1 bezeichnet der Ausdruck Bauprodukt „jedes Produkt oder jeden Bausatz, das beziehungsweise der hergestellt und in Verkehr gebracht wird, um dauerhaft in Bauwerke oder Teile davon eingebaut zu werden, und dessen Leistung sich auf die Leistung des Bauwerks im Hinblick auf die Grundanforderungen an Bauwerke auswirkt“.
Bauprodukte – angefangen von Steinen, Ziegeln und Beton bis hin zu Fußbodenbelägen, Isoliermaterial, Dicht- und Fugenmassen, Holzschutzmitteln, Lacken, Farben2 und Klebstoffen – haben spezifische Funktionen, die ein Gebäude nutzbar machen – zum Wohnen, zum Arbeiten, als Geschäft, als Lager. Die Anforderungen an die Funktionalität und Qualität von Bauprodukten nehmen zu, etwa bedingt durch Vorgaben für den vorbeugenden Brandschutz, zu Energieeinsparung und Klimaschutz, Schallschutz in immer dichter bewohnten Megastädten oder aufgrund steigender Ansprüche der Bewohner. Je nach geographischer Lage und klimatischen Bedingungen stellen sich die Anforderungen vor allem bei der Gebäudeklimatisierung auch noch völlig unterschiedlich dar. Und: Gebäude sollen mindestens einige Jahrzehnte nutzbar sein. Um den steigenden Anforderungen gerecht zu werden und um die Errichtung von Gebäuden dennoch kostengünstig zu realisieren, werden den klassischen Baumaterialien wie Zement oder Putz zahlreiche Stoffe wie etwa Fließmittel, Verflüssiger, Verfestiger oder Tenside zugesetzt. Weitere Baustoffe wie Klebstoffe, Lösemittel von Lacken, Isolierschäume bestehen aus einem Gemisch zahlreicher, z.T. flüchtiger Chemikalien. Sie erleichtern die Verarbeitung von Baumaterialien, beschleunigen den Bau und sorgen für unterschiedlichste Funktionen. Das Marktvolumen für Bauchemikalien betrug 2016 in Deutschland 8 Mrd. €, in Europa etwa 16 Mrd. €. (Zum Vergleich der Umsatz der chemischen Industrie in Deutschland betrug 128 Mrd. €.) Deutsche Chemieunternehmen (BASF, MC-Bauchemie) gehören zu den Weltmarktführern für Bauchemikalien.
Unter den eingesetzten Stoffen befinden sich auch gefährliche Chemikalien, teilweise vermeidbar, teilweise angesichts der funktionellen Anforderungen heute nicht ersetzbar. Von einem Kontakt mit diesen Chemikalien sind im Wesentlichen vier Gruppen betroffen:
In der Phase der Herstellung der Ausgangsstoffe, Zwischen- und Endprodukte (Baustoffe und Bauchemikalien) können die Beschäftigten in den Produktionsstätten potenziell gefährlichen Stoffen ausgesetzt sein.
In der Bau- und Konstruktionsphase sind vor allem Bauhandwerker betroffen.
In der Nutzungsphase von Gebäuden können Bewohner oder dort Beschäftigte potenziell gefährlichen Stoffen ausgesetzt sein.
Bei Sanierung oder Abbruch von Gebäuden mit stark kontaminierten Baumaterialien sind mögliche Risiken für Bauhandwerker, für die Umgebung (Anrainer) und ggf. über die Nutzung von Reststoffen in neuen Produkten auch für Verbraucher zu beachten.
In früheren Jahrzehnten erwiesen sich zahlreiche in Bauprodukten verarbeitete Stoffe im Nachhinein als giftig; deren Einsatz ist in der EU und zahlreichen anderen Ländern ist seit langem verboten (z.B. Asbest, PCB, PCP), sie können aber immer noch in bestehenden Bauwerken vorhanden sein. Infolge der Registrierung und Bewertung von Stoffen nach dem europäischen Chemikalienrecht (REACH) wurden mehrere sehr bedenkliche Stoffe (substances of very high concern – SVHC) in den vergangenen Jahren in ihrer Anwendung beschränkt, z.B. das in Wärmedämmplatten aus Styropor genutzte Flammschutzmittel HBCDD (Hexabromcyclododecan). Allerdings lassen sich nicht alle gefährlichen Stoffe verbieten – viele werden weiterhin benötigt. Es gilt daher, die Exposition von Anwendern und Nutzern zu minimieren. Allerdings warnen die Hersteller von Chemikalien und Bauprodukten vor umfangreichen und weiter gehenden Verboten, weil diese zu insgesamt riskanteren Verfahrensweisen auf den Baustellen führen könnten. Ob diese Sorge berechtigt ist, und wie man Gesundheits- und Umweltschutz trotz Nutzung gefährlicher Stoffe an die erste Stelle setzen kann, wird beim Fachgespräch erörtert. Bei derartig komplexen Fragestellungen mit weitreichenden gesundheitlichen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen ist es erforderlich, spezifische Anwendungsfälle zu bewerten (siehe Kasten), weil man mit einem Stoffverbot möglicherweise neue Probleme schaffen würde. Insofern spielt die Schnittstelle REACH/ EU-BauPVO eine wichtige Rolle.
Unverzichtbares Bauprodukt – aber nur in der Hand geschulter Arbeitnehmer Der Umgang mit besonders kritischen Stoffen wie Diisocyanaten wird in der europäischen Chemieindustrie trainiert, um Unfälle zu vermeiden. Isocyanate sind sehr giftig und schädigen bei Inhalation die Schleimhäute; sie rufen allergische Reaktionen hervor („Isocyanat-Asthma“). Diisocyanate und Polyole sind Bausteine des Polyurethans, das u.a. auf Baustellen aus beiden Komponenten hergestellt wird (PUR-Schäume). Die zuständigen europaweiten Industrievereinigungen ISOPA und ALIPA haben Schulungsmaterial und Trainingsprogramme entwickelt, um Unfälle beim Umgang mit diesen Stoffen zu vermeiden. Die Kampagnen „Walk the Talk“ und „One Step Ahead“ wenden sich vor allem an Mitarbeiter bei der Produktion und industriellen Anwendung dieser Stoffe. Entsprechende Seminare und Schulungen werden auch und gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgeführt. Inwieweit dies auch Mitarbeiter von Bauunternehmen und mit PUR-Schäumen arbeitende Bauhandwerker umfasst, ist eine interessante Frage. „Eine Substitution von PUR und den dazu gehörenden Reaktanden ist ausgeschlossen. Daher wird an einer Beschränkung auf Basis von REACH gearbeitet. Die BAuA (Bundesagentur für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin)… spricht sich für einen bisher nicht gegangenen Beschränkungsweg in Form einer zwingend vorgeschriebenen Schulung aus, um die Sicherheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz beim Umgang mit Diisocyanaten zu gewährleisten. Das sogenannte Beschränkungsdossier liegt seit Ende 2016 der ECHA vor.“
Plenarvorträge
Frau Outi Ilvonen, M.Sc. (Umweltbundesamt) erläuterte den Rahmen für die Einstufung gefährlicher Stoffe bei REACH und der BauPVO. Zum Abbau von Handelshemmnissen setzt die EU auf einheitliche Produkt- und Prüfstandards für harmonisierte Leistungsangaben. Ist ein Bauprodukt von einer harmonisierten Norm o. dgl. erfasst, erstellt der Hersteller eine Leistungserklärung für das Produkt, wenn es in Verkehr gebracht wird. Mit der Erstellung der Leistungserklärung übernimmt der Hersteller die Verantwortung für die Konformität seines Bauprodukts mit der erklärten Leistung. Die Leistungserklärung ist zwingende Voraussetzung für die CE-Kennzeichnung. Im Bereich Bauprodukte fehlten allerdings bislang Normen hinsichtlich der Anforderungen/Leistungen im Bereich Hygiene, Gesundheit und Umwelt. Seit Anfang 2018 liegt eine erste Prüfmethode hinsichtlich der Freisetzung gefährlicher Stoffe aus Bauprodukten vor (Standardprüfung und -kennzeichnung nach DIN EN 16516 für alle emissionsrelevanten Bauprodukte). Die Leistungserklärungen für die CE-Kennzeichnung der betreffenden Bauprodukte müssen noch entsprechend ergänzt werden. Unklar ist derzeit noch die Frage der Bewertung der Emissionen; eine entsprechende Umsetzung in der Leistungsbeschreibung fehlt deshalb. Wünschenswert aus Sicht des UBA wären Mindeststandards, die einzuhalten sind. Dies wird aber von EU-Kommission zur Zeit nicht aufgegriffen.
Frau Ilvonen wies auf Defizite bei der Marktüberwachung von Bauprodukten hin; verschiedene Untersuchungen bzw. statistische Auswertungen (ECHA, KEMI, Marktüberwachung in Deutschland) zeigten zahlreiche Verstöße (u.a. auch bzgl. SVHC) hinsichtlich der Kennzeichnungs-Vorschriften, vor allem bei Importen und Produkten unbekannter Herkunft. Die bisher schon erfolgte Harmonisierung bei Bauprodukten sowie freiwillige Vereinbarungen zur Kennzeichnung bestimmter Produktgruppen – wie Umweltzeichen, Umweltproduktdeklarationen oder Zertifizierungen – seien ein klarer Erfolg.
Den Import von Bauprodukten behandelte Herr Dr. Sebastian Schmidt (DIBT). Das DIBT ist u.a. für die allgemeine bauaufsichtliche Zulassung (abZ) nicht genormter Bauprodukte zuständig und als Marktüberwachungsbehörde tätig. Maßgeblich für die abZ sind die Anforderungen an Gebäude (und damit mittelbar auch an Bauprodukte), wie sie in der Musterbauordnung (MBO), die als Orientierungsrahmen für die Bauordnungsgesetzgebung der Länder dient, und in der Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV TB, 2016) beschrieben sind. In der MVV TB wird hinsichtlich der Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich Gesundheitsschutz auf die ABG (Anforderungen an bauliche Anlagen zum Gesundheitsschutz) verwiesen. Die in den ABG genannten Anforderungen umfassen einerseits die Bewertung der Inhaltsstoffe, andererseits die Bewertung der-Emissionen flüchtiger Verbindungen. Im Rahmen der abZ stellt das DIBT anhand der Herstellerdeklaration fest, welche Inhaltsstoffe das Bauprodukt enthält, und verlangt vom Hersteller ggf. eine VOC-Prüfung. Die Bewertung der Ergebnisse erfolgt dann anhand des vom Ausschuss zur gesundheitlichen Bewertung von Bauprodukten (AgBB) entwickelten Schema mit entsprechenden Konsequenzen für die abZ.
Herr Dr. Schmidt wies daraufhin, dass es bei der Belastung von Bauprodukten mit SVHC, die aus dem Nicht-EU-Ausland importiert werden, eine große Lücke gibt. So gilt die Zulassungspflicht bzw. das Verwendungsverbot von Substanzen des Anhang XIV nicht für importierte Erzeugnisse,. Dazu gehören u.a. PVC-Bodenbeläge, die DEHP oder Phenol-abspaltende Stabilisatoren enthielten, Trittschalldämmung, die zum Teil aus Altreifen-Resten mit entsprechenden PAK-Gehalten bestehen. Regelungen für die stoffliche Verwertbarkeit in allen anderen Ländern fehlen.
Herr Dr. Reinhold Rühl (BG Bau) zeigte die Entwicklung der Gefahrstoffe im Bereich Bauwesen an Beispielen, die den Erfolg der Umsetzung von Regelungen demonstrieren, die aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Baubranche eingeführt wurden. Allerdings gäbe es nach wie vor sehr kritische Stoffe bzw. Ersatzstoffe, wie etwa MEKO (Methylethylketonoxim = 2-Butanonoxim) in Parkettversiegelungen oder Epoxidharze, die zu Hauterkrankungen und Allergien führen; er vermutet eine hohe Dunkelziffer.
In Fällen, bei denen eine Substitution gefährlicher Stoffe aus technischen Gründen nicht möglich sei, müsse der sichere Umgang mit den Gefahrstoffe enthaltenden Produkten geübt und durch entsprechende technische Anleitungen oder dgl. (vgl. das INQA-Bewertungssystem für Epoxidharz-Produkte) am besten auch international harmonisiert werden. Hierzu zählt auch das 2016 von der BAUA bei der ECHA eingereichte Beschränkungsverfahren nach Anhang XV REACH-VO für Isocyanat-haltige Kleber, für die in Zukunft verbindliche und überprüfbare Anforderungen an Schutzmaßnahmen und Schulungen für den sicheren Umgang mit Isocyanaten eingeführt werden sollen (siehe Kasten). Aus Sicht von Dr. Rühl sind einige in der Öffentlichkeit „verschriene“ Stoffe wie Formaldehyd deutlich weniger kritisch als derzeit eingesetzte Ersatzstoffe.
Herr Prof. Dr. Wolfgang Linden (FH Lübeck) wies auf die Dynamik der Entwicklung von Bauprodukten hin, die auch eine ständige Beschäftigung der Architekten mit dieser komplexen Materie erforderlich machen. Dafür bedarf es geeigneter Informationskanäle und verständlicher Informationen. Infolge einer EuGH-Entscheidung wurde die Verwendung beispielsweise von Ökokennzeichen (z.B. Blauer Engel, natureplus) neben dem CE-Kennzeichen untersagt, was zu einer erheblichen Erschwernis bei der Bewertung der Informationen führt. Architekten und Bauingenieure sind meist nicht in der Lage, die in der MVV TB genannten Anforderungen an bauliche Anlagen, z.B. VOC-Ausgasungen, sowie die dazu erforderlichen Prüfungen wie etwa Expositionsabschätzungen gefährlicher Stoffe nachzuvollziehen. Er forderte daher, problematische Stoffe zu verbieten und die Verantwortung nicht auf die Architekten und Bauingenieure abzuladen. Des weiteren wies Herr Prof. Linden auf Probleme hin, die sich durch Verwendung von seit langem als kritisch bekannten Stoffen (PAK, Asbest, PCP, PCB oder Blei) für den Rückbau von Gebäuden und für das Recycling der verschiedenen Materialien ergeben.
Beiträge von Stakeholdern
Herr Dipl.-Ing. Martin Glöckner (deutsche Bauchemie e.V) berichtete über die im Verband kontinuierlich erstellten Hilfen zur Umsetzung der Regelwerke, um vor allem den kleinen und mittlere Unternehmen eine Übersicht angesichts des steigenden Umfangs der Regelungen zu verschaffen. Die Deutsche Bauchemie führt auch Expositionsschätzungen für branchentypische Produkte durch. Ergebnisse von Baustoffbewertungen müssen einfach verständlich sein; hier verwies er auf ProScale; hier wird eine Methode zur Bewertung des toxikologischen Potentials eines Produkts über dessen gesamten Lebenszyklus entwickelt. Damit werden Beiträge für alle relevanten Bereiche – Arbeitnehmer, Verbraucher, Umwelt – adressiert.
Frau Dr. Kerstin Etzenbach-Effer (Verbraucherzentrale NW) wies auf die Probleme der Verbraucher beim Umgang mit Risiko-Stoffen in Produkten hin, die ja nicht nur als Baumaterial, sondern auch für viele andere Funktionen in Innenräumen eingesetzt werden. Ein großes Hindernis bei der Verbraucherberatung würden fehlende Informationen bei Bauprodukten darstellen; sie sprach sich daher für eine Volldeklaration der Inhaltsstoffe für Gemische und Erzeugnisse, ein Verbot von CMR-Stoffen in Bauprodukten und eine Deklarationspflicht speziell für SVHC in Bauprodukten mit CE-Zeichen aus. Verbraucher hätten in der Regel keinen Zugang zu Sicherheitsdatenblättern, die auch schwer verständlich seien – und für Erzeugnisse seien diese gar nicht vorgeschrieben.
Herr Dr. Hans-Jörg Kersten (Bundesverband der Gipsindustrie) lobte das deutsche Arbeitsschutzregime, das Vorbild auch für SAICM sein könne. Mit REACH, der CLP-VO und Sicherheitsdatenblättern stünde in Europa eine Struktur zur Identifikation von gefährlichen Stoffen und zum Umgang mit ihnen, auch in Gemischen, zur Verfügung. Die Weitergabe von Sicherheitsdatenblättern in der Lieferkette sei eine wichtige Aufgabe, auch wenn dies bei Erzeugnissen nicht vorgeschrieben sei. Er verwies auf zusätzliche freiwillige Maßnahmen, etwa Volldeklarationen auf einigen Bauprodukten. Sicherheitsdatenblätter für Erzeugnisse sind – soweit vorhanden - in GISBAU elektronisch hinterlegt und mit Links zu den Registrierungsdossiers bei der ECHA versehen. In Zukunft wird es auf Basis der CLP einfache Deklarationen für gefährliche Stoffe in Produkten auf der Verpackung geben (UFI = unique formula indicator). Dr. Kersten beklagte die unterschiedlichen Grenzwerte beim Arbeitsschutz in den EU-Ländern – das erschwere die Arbeit der Hersteller erheblich. Er forderte vereinfachte Informationen zu Bauprodukten (= Erzeugnissen) für Verbraucher, was aber angesichts der Komplexität schwierig sei. Eine Volldeklaration hielt er nicht für zielführend; besser sei es, den Weg über das Baurecht (für Erzeugnisse/Bauwerke) in Ergänzung zum Stoffrecht zu gehen.
Herr Dr. Gerrit Land (DIN) berichtete über den Stand der Arbeiten des CEN/TC 351. An den Arbeitsgruppen auf europäischer Ebene sind wegen der Bedeutung der „Zielmedien“ Innenraumluft sowie Boden und Grundwasser neben betroffenen Industrieverbänden zahlreiche Stakeholder auch aus dem Verbraucher- und Umweltbereich vertreten. Dies gilt noch stärker für die nationalen Spiegelausschüsse, in denen auch einzelne Unternehmen mitarbeiten.
Frau Dr. Ana Maria Scutaru (Umweltbundesamt) betonte die Bedeutung der Innenraumluft für die menschliche Gesundheit. In Europa verbringen Erwachsene 80 bis 90% der Zeit in Innenräumen. Auf nationaler Ebene befasst sich der AgBB seit Jahren mit der Formulierung von Anforderungen an die Qualität der Innenraumluft und gibt auf Basis einer gesundheitlichen Bewertung der einzelnen Stoffe (z.Zt. sind etwa 120 der 185 Stoffe harmonisiert) Empfehlungen etwa in Form der NIK-Werte (niedrigste interessierende Konzentration, englisch: lowest concentration of interest, LCI) ab. Das EuGH-Urteil von 2014 untersagt den Mitgliedsstaaten, zusätzliche Kennzeichnungen aufzubringen, wenn ein Bauprodukt bereits die CE-Kennzeichnung trägt. Der AgBB hat deshalb dafür ausgesprochen, den Gesundheitsschutz durch die Novellierung der Musterbauordnung (MBO) sicher zu stellen.
Statt des erkrankten Referenten Herrn Dipl.-Ing. Stefan Haas M.Sc. führte Prof. Dr. Wolfgang Linden kurz in den Hintergrund, die Ziele und die Struktur von WECOBIS ein. Für Architekten und Bauherren sowie Anwender, die sich im Rahmen einer Umbau- oder Sanierungsmaßnahme mit Bauprodukten befassen, stellt das Baustoffinformationssystem WECOBIS eine wichtige
Informationsquelle dar. WECOBIS bietet umfassende, strukturiert aufbereitete Informationen zu Umwelt- und Gesundheitsaspekten von Bauproduktgruppen und Grundstoffen. Es wird laufend um neue und aktualisierte Daten ergänzt und an aktuelle Entwicklungen angepasst, wobei die Informationen herstellerneutral verfügbar gemacht werden. Zusätzlich können aus ÖkoBauDat Daten zu Baustoffen, aber auch zur Energieversorgung und zu bautypischen Prozessen entnommen werden, die für eine Ökobilanzierung von Gebäuden vor allem in der Planungsphase relevant sind (EPDs - environmental product declarations) vorhanden sind.
Deklarationspflicht für Inhaltsstoffe von Bauprodukten?
Die Frage, ob es eine vollständige Deklaration von Inhaltsstoffen bei Bauprodukten geben solle, blieb umstritten. Ist die damit verbundene Informationsflut überhaupt sinnvoll für den Verbraucher? Vertreter der Industrie sahen dies nicht als sinnvoll an, da der Verbraucher dann auch viele für ihn nicht relevante und insgesamt verwirrende Informationen bekommen würde. Aus dem Bereich des Verbraucherschutzes und vom Umweltbundesamt wurde für Information im Sinne einer neutralen, auf objektive Indikationen gestützten Empfehlung für die Verwendung von Produkten plädiert. Einigkeit bestand darin, dass zu viele Siegel es dem Verbraucher auch nicht einfacher machen, weil dies die Gefahr des „Greenwashing“ erhöhe.
Überlegungen zu einer Positiv-Liste stießen auf geteiltes Echo: Die Hersteller befürchten, dass mit einer Liste zwar einige einzelne Marktdeklarationen hervorgehoben würden; andererseits würden die wirklich „schwarzen Schafe“ nicht berücksichtigt, würden also im Mittelfeld mitlaufen. Seitens des Verbraucherschutzes wurden Zulassungsverfahren als möglich und sinnvoll, wenn auch sehr aufwendig ins Gespräch gebracht.
Inwieweit sollten Sicherheitsdatenblätter (SDB) für Bauprodukte verpflichtend eingeführt werden? SDB haben sich über viele Jahre als Informationsinstrument bewährt. Es besteht bereits eine Verpflichtung zur Erstellung von SDB für gefährliche Mischungen im industriellen Bereich. Einige Hersteller geben auch SDB für nicht gefährliche Mischungen heraus; diese Dokumentationen auf freiwilliger Basis sind gut handhandbar. Auch sind von einigen Herstellern SDB für nicht gefährliche Produkte erhältlich. Dies hat zunehmende Bedeutung, da es teilweise auch Anforderungen für nicht gefährliche Stoffe gibt. Anwesende Industrievertreter bezeichneten Sicherheitsdatenblätter auf freiwilliger Basis bereits als Branchenstandard. Wichtige Ergebnisse: Es besteht ein breit geteiltes Bedürfnis nach einem aussagekräftigen, für Bauherren und Verbraucher verständlichen Deklarationssystem. Es gibt zu wenig Transparenz darüber, was bereits an Dokumentation vorhanden ist. Von einigen Herstellern werden seit langem Sicherheitsdatenblätter (SDB) für nicht gefährliche Produkte wie auch – über REACH hinaus gehend - für Mischungen herausgegeben. Eine Initiative zur Harmonisierung der Referenzwerte EU-LCI als Empfehlung für die Verwendung im internationalen Umfeld ist sinnvoll! Die öffentliche Hand sollte als Pionier bei der Gebäudedokumentation vorangehen. Sobald ein standardisiertes Building Information Modelling (BIM) vorhanden ist, könnte es als gutes Beispiel auch international dienen.
Inwieweit sind Erfahrungen aus dem Bauhandwerk zum Schutz der Beschäftigten und der Umwelt auf die Nutzer von Gebäuden übertragbar? Die Erfahrungen und Regelungen zum Arbeitsschutz bei Bauhandwerkern haben eigentlich mit einer potenziellen Innenraum-Belastung für Bewohner zunächst einmal direkt nichts zu tun, Berührungspunkte auf der gesetzlichen Seite gibt es nicht. Aber es geht im Wesentlichen um die gleichen kritischen Stoffe; daher werden NIK-Werte auch aus Erfahrungen beim Arbeitsschutz abgeleitet. Die Komplexität einer solchen Bewertung bzw. Entscheidung wurde an der Frage deutlich, wann denn eine kritische Eigenschaft für Handwerker einerseits und Bewohner andererseits zum Problem würde: TiO2 ist als möglicherweise krebserregend in der Diskussion. Hier geht es um den Staub, der beim Schleifen etc. freigesetzt wird (Exposition des Handwerkers), während ansonsten kein Abrieb erfolgt, mithin außer bei dieser Tätigkeit überhaupt keine Gefährdung von Nutzern gegeben ist. Dieses Beispiel führte zu der Frage, ob und wie eine Gesamtsicht auf das Gebäude, die am Bau Beschäftigten und die Bewohner sowie die direkte Umgebung (= Boden, Grundwasser) sinnvoll sei. Allerdings steht dem die grundsätzliche Inkompatibilität der drei Rechtsbereiche (Chemikalienrecht, Abfallrecht, Bauproduktenrecht) entgegen.
REACH trägt – wenn auch indirekt – zum Schutz der Bewohner vor Gefahren durch die Innenraumluft bei: Die REACH-VO gibt der ECHA durchaus die Möglichkeit („Subsequent service life relevant for that use?“), solche Unterlagen zu fordern und dann zum Bestandteil des Datengerüsts zu machen. Bauherren und Architekten können auf diese und weitere Daten zugreifen – dazu müssen die Daten verständlich aufbereitet werden. Im Regelfall benötigen Architekten und Bauherren dafür eine Anleitung. Dies hängt auch mit der zu wenig auf Materialien und Stoffe ausgerichteten Ausbildung von Architekten, Hochbau-Ingenieuren etc. zusammen.
Um das Thema Innenraumluft auf die Agenda der Bauplanung zu setzen, müsse es Thema der Ausschreibung bzw. des Baubuchs sein (Beispiel Hamburger Hafencity GmbH). Wegen der Vielzahl z.T. irreführender Informationen zu Bauprodukten ist es notwendig, die offiziellen Datenbanken (z.B. auf der Homepage „Nachhaltiges Bauen“ der Bundesregierung) bzw. Listen (z.B. des AgBB) verstärkt Bauherren und Architekten nahe zu legen.
Wichtige Ergebnisse: Die Dimensionen Arbeitsschutz, vorsorgender Gesundheitsschutz für den Innenraum und Umweltwirkungen (Boden, Grundwasser, Abfall) sollten trotz unterschiedlicher gesetzlicher Grundlagen ganzheitlich betrachtet werden, um einer Optimierung der einzelnen Bereiche auf Kosten aller übrigen vorzubeugen Dafür sollte ein informeller, aber strukturierter Austausch geschaffen werden. Das Interesse der „Entscheider“ (Bauherren, Architekten,…) an einer besseren Qualität der Innenraumluft muss gesteigert werden. Bauherren, insbesondere große öffentliche Auftraggeber, sollten entsprechende Qualitätsanforderungen stellen.
Übertragbarkeit deutscher Erfahrungen ins Ausland
Nach Erfahrungen vieler Teilnehmer des Fachgesprächs besteht breites Interesse an in Deutschland eingeführten standardisierten Berichtsverfahren, Leitwerten, Datenbanken. So wurde das AgBB-Schema in diversen europäischen Ländern kopiert und ist als Zertifizierungsgrundlage für LEED (Leadership in Energy and Environmental Design, einer der wichtigsten Green Building Standards der Welt) anerkannt. GISBAU ist in leicht abgewandelter Form u.a. in den Niederlanden und Österreich eingeführt worden. Große Bauunternehmen aus mehreren Ländern Europas verwenden GISBAU auch außerhalb Deutschlands. Außerdem fragen ausländische Kunden von Herstellern von Bauprodukten oft nach GISBAU-Daten. Die Verbreitung von GISBAU wird durch dessen Verfügbarkeit in mittlerweile 16 Sprachen gefördert.
Wichtige Ergebnisse: GISBAU kann auf Entwicklungs- und Schwellenländer übertragen werden. Notwendig ist jeweils die Übersetzung in die Landessprache. Angesichts des enormen Baubooms in Schwellenländern wären solche Informationen sehr hilfreich. Bei der Umsetzung fehlen allerdings in den meisten Ländern Gesetzliche Vorgaben für die Arbeitssicherheit im allgemeinen, qualifizierte Handwerker und Facharbeiter, die diese Texte lesen, verstehen und anwenden können. Zum Abschluss des Fachgesprächs berichtete Herr Friedrich Barth über die Aufgaben des neu gegründeten International Sustainable Chemistry Collaborative Centre - ISC3, dessen Ziele und Struktur auf Initiative des BMU in einem Projekt zwischen 2015 und 2017 entwickelt wurden. Betreut wird das ISC3 vom Referat für Internationales Chemikalienmanagement im BMU und dem entsprechenden UBA-Fachgebiet. Das ISC3 hat zwei „Hubs“, einen für Forschung und know how-Transfer vor allem für Entwicklungs- und Schwellenländer an der Universität Lüneburg und einen für Innovationen bei der DECHEMA in Frankfurt. Da sich das ISC3 für 2018 das Feld Bauen und Wohnen als Themenfeld ausgesucht hat, bat Herr Barth die Teilnehmer des Fachgesprächs um Ideen, Meinungen und Mitteilung von Initiativen im Rahmen nachhaltiger Chemie. Die Teilnehmer sprachen sich einhellig dafür aus, den in diesem Fachgespräch geübten interdisziplinären Austausch in einer heterogen zusammen gesetzten Gesprächsrunde fortzusetzen, um die unterschiedlichen Denkweisen und Interessenlagen zu Wort kommen zu lassen. Weitere wichtige Stakeholder wie Architekten- und Handwerkskammern sollten mit an den Tisch. Das Umweltbundesamt verband die Ankündigung, Erkenntnisse aus dem Fachgespräch nach Auswertung bei SAICM einzubringen, mit Dank an Referenten, Teilnehmer und Moderatoren für die offene, intensive und ergebnisreiche Diskussion. Über die Organisation eines weiteren interdisziplinären Austauschs wird sich das UBA Gedanken machen.
Ansprechpartner: Dr. Rafael Zubrzycki Umweltbundesamt Wörlitzer Platz 1 D-06844 Dessau-Roßlau
Prof. Dr. Henning Friege Friege [at] N-hoch-drei [dot] de N³ Nachhaltigkeitsberatung Dr. Friege & Partner Scholtenbusch 11 D-46562 Voerde
„Für Mensch und Umwelt“ ist der Leitspruch des UBA und bringt auf den Punkt, wofür wir da sind. In diesem Video geben wir Einblick in unsere Arbeit.
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