Disclaimer: Dieser Artikel ist ein Beitrag im Rahmen der Konferenz "Innenraumluft 2024" und spiegelt nicht die Meinung des Umweltbundesamtes wider. Für die Inhalte sind die genannten Autoren und Autorinnen verantwortlich.
Autor*innen
Norbert Weis, Jörg Mertens, Angela Schramm, Gerd Freudenthal
Bremer Umweltinstitut GmbHEmpfohlene Zitierweise: Weis, N., Mertens, J., Schramm, A., Freudenthal, G. (2024). Acrylnitril und Dichlorethan in einem Behördenhaus mit „erhöhter“ Krebsrate: ein Schadstoffkrimi. Beitrag A39 zur Fachtagung „Innenraumluft 2024 - Messen, Bewerten und Gesundes Wohnen“, 6.-8. Mai 2024, Dessau-Roßlau. https://www.umweltbundesamt.de/irl2024-a39
Acrylnitril und Dichlorethan in einem Behördenhaus mit „erhöhter“ Krebsrate: ein Schadstoffkrimi
Mehrere kanzerogene Substanzen in einem Gebäude – ein Fallbeispiel
Abstract
Um das Jahr 2000 wurde ein 4-stöckiges ehemaliges Unterkunfts-Kasernengebäude aus den 1930er Jahren zu einem Behördenhaus umgenutzt.
Schon nach kurzer Zeit haben sich Mitarbeiter mit gesundheitlichen Beschwerden gemeldet und den Verdacht, dass diese gebäudebedingte Ursachen haben, geäußert. Das Bremer Umweltinstitut (BUI) hat eine erhöhte Belastung mit PAK (Polycyclischen Aromatischen Kohlenwasserstoffen) und PCN (Polychlorierte Naphthaline) durch Quellen im Fußbodenaufbau festgestellt. Die Probesanierung eines Raumes mit kompletter Entfernung der Quellen (PAK-haltige Teerpappen sowie mit dem Holzschutzmittel PCN behandelte Tragbalken) verlief zunächst nicht erfolgreich. Über Tracergasmessungen mit SF6 hat das BUI festgestellt, dass die Räume über Hohlziegeldecken miteinander in Verbindung stehen und kontaminierte Luft aus dem benachbarten Raum einen Sanierungserfolg verhindert. Über eine Wannenabdichtung mit beschichteter Metallfolie auf der Estrich-Ebene konnte der Luftverbund erfolgreich unterbunden werden.
Die zuständige Baubehörde hat in Abstimmung mit dem Landesgesundheitsamt entschieden, dass nur die Räume saniert werden sollen, die über den von uns festgelegten „Grenzwerten“ (abgestimmt mit dem zuständigen Landesgesundheitsamt) liegen. Das BUI hat damals zu bedenken gegeben, dass sich möglicherweise die Luftströmungen in den Hohlziegeldecken verändern und in der Folge bislang nur gering belastete Räume auffällig werden können. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu gesundheitlichen Beschwerden und zu PAK-Sanierungen einzelner Räume.
Das Thema „Gebäudeschadstoffe“ war und ist bei der Belegschaft nunmehr seit 2 Jahrzehnten präsent. Aufgrund der langjährigen Beschäftigung mit diesem Thema wird von den Nutzern wahrscheinlich besonderes Augenmerk auf die Gerüche im Gebäude und auf gesundheitliche Beschwerden gelegt. Nachdem in den letzten Jahren mehrere MitarbeiterInnen an Krebs erkrankt sind, kam es in der Belegschaft zu Unruhen. Man war der Meinung, dass eine erhöhte Krebsrate vorliegt (dies wurde von uns nicht überprüft) und das Gebäude wurde als Ursache verdächtigt.
Die Behördenleitung war gezwungen sich den Ängsten der MitarbeiterInnen anzunehmen. Unabhängig davon, ob nun tatsächlich eine erhöhte Krebsrate vorliegt oder nicht, war nach Meinung der Behördenleitung nur über entsprechende Messungen weitere Aufklärung zu betrieben und wieder Ruhe in Belegschaft zu bringen.
Auf Druck der MitarbeiterInnen sollen erneut ausgewählte Räume auf PAK und leichtflüchtige PAK untersucht werden, weiterhin sollen auch weitere potentiell krebserregende Substanzen/Faktoren ermittelt werden.
Dazu wurden in 31 Büroräumen Raumluftmessungen und Radonuntersuchungen sowie in 10 Räumen Hausstaubuntersuchungen durchgeführt:
Im vorliegenden Fall gab es im Wesentlichen folgende Befunde:
In neun von 31 Büroräumen wurden mit 1,1 ng/m³ bis 3,9 ng/m³ gegenüber dem vorläufigen Leitwert des AIR von 0,8 ng/m³ erhöhte Benzo[a]pyren- (BaP) Raumluftkonzentrationen nachgewiesen. Die betroffenen Räume wurden durch eine Fachfirma feingereinigt und in mehreren Abständen erneut kontrolliert. Eine BaP-Belastung stellte sich nicht mehr ein. Als Ursache wird ein zeitlich befristeter Eintrag von einer nahen Abrissbaustelle vermutet.
Im Raucherraum wurde eine PAK-Summenbelastung (16 EPA-PAK) von ca. 50.000 ng/m³ ermittelt. Dominant waren die mittelflüchtigen PAK. Die Naphthalin-Konzentration lag unter 1.000 ng/m³, BaP blieb unter der Nachweisgrenze.
Hausstaubuntersuchungen als Screening auf schwerflüchtige Substanzen ergaben Nachweise auf Icaridin, Benzalkoniumchlorid, Nikotin, HBCD, Dichlofluanid, Bisphenol A, Weichmacher, Flammschutzmittel und weitere Substanzen. Da keine Systematik feststellbar war und diese Substanzen nicht als kanzerogen gelten, wurde diesen Funden nicht nachgegangen.
Eine relevante Belastung mit Radon (> 300 Becquerel/m³) wurde nicht ermittelt.
Unauffällig waren auch die Schwermetallnachweise (Arsen, Blei, Cadmium, Quecksilber).
In zwei Räumen wurde wiederholt ein TVOC (total volatile organic compounds) von über 1.000 µg/m³ nachgewiesen. Hier wurden Minderungsmaßnahmen empfohlen und eingeleitet.
Zunächst wurde in sechs der ausgewählten Räume im Nebenbefund der VOC-Untersuchungen erhöhte 1,2-Dichlorethan-Werte und Acrylnitril (jeweils über 1 µg/m³) festgestellt. Bei beiden Substanzen handelt es sich um kanzerogen eingestufte Verbindungen (Kategorie 1b).
Daraufhin wurden alle 112 Räume gezielt auf Acrylnitril und 1,2-Dichlorethan untersucht. Eine Überschreitung des vorläufigen Leitwertes des AIR für 1,2-Dichlorethan (1 µg/m³) liegt in 3 Räumen vor, unter 1 µg/m³ nachweisbar war 1,2-Dichlorethan in weiteren 25 Räumen. Der aus Vorsorgegründen von 1,2-Dichlorethan auf Acrylnitril übertragene, vorläufige Leitwert von 1 µg/m³ wird in 13 Räumen überschritten, in weiteren 71 Räumen konnte Acrylnitril unter 1 µg/m³ nachgewiesen werden.
Die Quellensuche erwies sich als extrem schwierig, da zunächst keine Systematik zu erkennen war. Da sich die Belastung über verschiedene Wege im Gebäude verbreiten kann, ergibt sich eine komplexe Verteilungssituation. Durch Leerräumen bestimmter Räume und gezielten Prüfkammeruntersuchungen konnte schließlich eine 1,2-Dichlorethan-Quelle ausfindig gemacht werden. Diese Quelle wurde, basierend auf den Erfahrungen der AutorInnen (siehe Vortrag auf der Wabolu 2019) entdeckt. Es handelt sich dabei um einen Dekorationsartikel aus einem „Kunststein“. Da in einem zusätzlichen, räumlich weiter entfernten Bereich ebenfalls eine 1,2-Dichlorethan-Belastung auftrat, die nach der Entfernung der o.g. Quelle unverändert war, musste es noch eine zweite 1,2-Dichlorethan-Quelle geben.
Die Eruierung der zweiten Quelle gelang, nachdem auch hier der Bereich eingegrenzt und zahlreiche verdächtige Materialien aus dem Raum entfernt wurden. In der Raumluft konnte anschließend kein 1,2-Dichlorethan über der Nachweisgrenze bestimmt werden. Auch hier gelang die Quellenermittlung über eine Prüfkammeruntersuchung. Es handelt sich um einen Bilderrahmen aus einem „Kunststein“.
Nach wie vor als extrem schwierig gestaltet sich die parallel durchgeführte Suche nach der Acrylnitril-Quelle. Zu diesem Schadstoff gibt es weder im Bremer Umweltinstitut Erfahrung noch gibt es in der Literatur Hinweise auf eine Quelle bzw. auf einen Nachweis in der Innenraumluft.
Die Quelle wurde (Stand Ende Januar 2024) noch nicht identifiziert. Von den Nutzern eingebrachte Gegenstände scheiden aus, da die Belastung auch nach komplettem Leerräumen des am höchsten belasteten Büros unverändert anhielt. Die hoch belasteten Räume liegen alle im Bereich eines Flurabschnittes im 2. OG des Gebäudes. Die bisherigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Eintrag über den Deckenaufbau zum Dachgeschoss stattfindet.