KM-I-5 Fließrichtungswechsel
Monitoringbericht 2023 zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel
Monitoringbericht 2023 zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel
An der Ostsee kann es insbesondere infolge von Sturmfluten zu einem Fließrichtungswechsel in küstennahen Fließgewässerabschnitten kommen. Infolge des Klimawandels steigt das Risiko für solche Rückstausituationen. Am Pegel Anklam in Mecklenburg-Vorpommern ist die Zahl der Tage mit Fließrichtungswechseln seit 1961 signifikant gestiegen. Die anderen Pegel zeigen, möglicherweise auch wegen der noch kurzen Zeitreihen, keine Trends.
Wo Meer und Flüsse aufeinandertreffen, lässt ein Wechselspiel natürlicher Kräfte einzigartige Naturräume entstehen. In den Mündungsbereichen und küstennahen Fließgewässern wirken Brandung und Gezeiten mit den Flussströmungen aus dem Binnenland zusammen. Aufgrund variabler Süß- und Salzwasseranteile zeichnen sich die dynamischen Landschaften durch besondere ökologische Eigenschaften aus. Die Brackwasserzonen sind Lebensraum für spezialisierte Tier- und Pflanzarten und dienen als „Kinderstube“ für wirtschaftlich bedeutsame Fischarten. Mündungs- und Brackwasserbereiche prägen vielerorts auch die norddeutsche Küste.
Unter Tideeinfluss wie an der Nordsee wirken sich die Gezeiten auf das hydrodynamische Geschehen in küstennahen Fließgewässerabschnitten aus: Während bei Ebbe das Flusswasser ungehindert in den Mündungsbereich fließen kann, wird bei Flut der Abfluss verlangsamt oder das Flusswasser aufgestaut. Bei erhöhtem Zufluss von Meerwasser in die Mündungsbereiche und Binnengewässer, insbesondere aufgrund von starkem Wind und hohem Seegang, kann es dazu kommen, dass sich die Fließrichtung des Wassers in küstennahen Fließgewässerabschnitten zeitweise umkehrt. Im Falle solcher Rückstauereignisse verzeichnen die Messstationen entlang der betroffenen Flussabschnitte negative Abflusswerte. Ist die Tide wie an der Ostsee nur schwach ausgeprägt, sind Stürme stets der bestimmende Faktor für den Rückstau in Fließgewässern. Vor allem bei hohem Wasserspiegel kann starker Wind das Meerwasser weit in die Binnengewässer drücken. Der Klimawandel begünstigt das Auftreten solcher Rückstauereignisse: Durch den steigenden Meeresspiegel kommt es zu grundsätzlich höheren Pegelständen an der Küste. Mit ihnen steigt auch das Ausgangsniveau von Sturmfluten, die infolgedessen höhere Wasserstände erreichen können (siehe Indikator KM-I-3).
Neben dem maritimen Einfluss durch Sturmfluten und Seegang ist das Auftreten von Rückstau in einem Gewässer an bestimmte Gewässercharakteristika gekoppelt. Rückstaubeeinflusste Fließgewässer zeichnen sich durch einen (sehr) schwachen Wasserabfluss und ein niedriges Talbodengefälle (< 0,5 Promille vereinzelt bis ≤ 2 Promille) aus. Diese Bedingungen treffen für die durch die letzte Eiszeit geprägten Jungmoränenlandschaften in Mecklenburg-Vorpommern und im östlichen Schleswig-Holstein zu. Im Bereich der Flachküsten der Ostsee münden die Gewässer in ein schwach brackiges, unterschiedlich stark verlandetes Küstengewässer. Beispielsweise mündet die Peene in das Stettiner Haff, einen durch eine Nehrung beziehungsweise die Insel Usedom vom Hauptteil der Ostsee getrennten Brackwasserbereich. Die mineralische Gewässersohle der rückstaubeeinflussten Fließgewässer liegt meist deutlich unterhalb des Ostsee-Meeresspiegels. Infolge natürlicher Sedimentationsprozesse kommt es an der Gewässersohle häufig zu Schlammablagerungen.
Durch Rückstau können sich die ökologischen und hydrodynamischen Charakteristika in und an den betroffenen Fließgewässerabschnitten verändern. So verlagert sich bei Sturmfluten die Mündung der Peene in die Ostsee landeinwärts, wodurch Flächen in den Einfluss des Meeres geraten, die bisher nicht diesen Einflüssen ausgesetzt waren. Aus den Schlammablagerungen können Sauerstoffzehrungen folgen, die sich auf die Gewässerqualität und das ökologische Gefüge auswirken können. Der Rückstau kann entlang des Binnengewässers zudem die Hochwassergefahr verschärfen. Hier übernehmen in erster Linie Deiche den Hochwasserschutz. Diese sind allerdings meist für Hochwasserereignisse bemessen, deren Entstehung im Binnenland liegt.
Der Indikator zeigt anhand von vier ausgewählten Pegeln die Anzahl der Tage mit Fließrichtungswechseln bei ausgewählten in die Ostsee mündenden, rückstaubeeinflussten Fließgewässern81. Für die Auswahl der Pegel war entscheidend, dass diese möglichst wenig anthropogen beeinflusst sind. Unterschiede zwischen den Pegeln bestehen in der Exposition zur Ostsee sowie der topografischen Gestalt der Gewässerbetten und des Talbodengefälles. Zwei Pegel liegen an der Peene: Der Pegel Anklam befindet sich im Mündungsbereich der Peene in das Stettiner Haff. Der Pegel Demmin befindet sich 58 km weiter landeinwärts und zeigt, wie weit sich der Fließgewässerrückstau ins Landesinnere fortsetzt. Der an der Trave gelegene Pegel Lübeck-Moisling liegt in einem sowohl von Küstenhochwasser als auch von Flusshochwasser betroffenen Gebiet. Trotz seiner Entfernung von 20 km von der Küste reagiert der Pegel ebenfalls auf erhöhte Ostseewasserstände und Sturmfluten. Der Pegel Füsing an der Füsinger Au befindet sich im Rückstaubereich der Schlei.
Die Zeitreihen verlaufen aufgrund des Einflusses einzelner Extremereignisse schwankend. Am Pegel Anklam kam es erstmals im hydrologischen Jahr 1989 an über 100 Tagen zu einem Fließrichtungswechsel aufgrund von Rückstau. Vor allem im August des Jahres wurden negative Abflusswerte registriert, als ein schwerer Sturm mit orkanartigen Böen an der Ostseeküste zu Hochwasser mit meterhohen Wellen und erheblichen Schäden führte. Ähnlich häufig kam es zuletzt in den hydrologischen Jahren 2019 und 2020 zu Rückstausituationen am Pegel Anklam. Zu Beginn des Jahres 2019 trugen gleich zwei Sturmfluten kurz hintereinander zu Fließrichtungswechseln in der Peene bei. In diesem Jahr kam es am Pegel Demmin mit Fließrichtungswechseln an 84 Tagen zum bisherigen Höchstwert der Zeitreihe. Die meisten Tage mit Fließrichtungswechsel am Pegel Lübeck-Moisling wurden im September 2014 gemessen: Ende des Monats beeinflusste Sturmtief „Gudrun“ den Ostseeraum. Als der Wind in der westlichen Ostsee an Stärke gewann und auf Nord drehte, erreichte der Wasserstand an der Küste den Monatshöchstwert und drückte Meerwasser in die küstennahen Fließgewässer.
Die Sommer 1992, 2003, 2018 sowie 2019 waren im norddeutschen Raum von ausgeprägter Hitze und geringen Niederschlägen geprägt. Der Oberwasserabfluss der Gewässer war infolgedessen deutlich reduziert. Die geringen Abflüsse in Peene, Trave und Schlei könnten die in diesen Jahren verzeichneten Fließrichtungswechsel begünstigt haben.