Ablauf einer Umweltrisikobewertung für Tierarzneimittel
Pharmazeutische Unternehmer für Tierarzneimittel müssen zusammen mit ihrem Antrag auf Zulassung beim BVL eine gestufte Umweltbewertung (Environmental Risk Assessment = ERA) einreichen. Das Umweltbundesamt bewertet diese Umweltbewertung für einen Tierarzneimittelwirkstoff zusammen mit den eingereichten Studien zu den ökotoxikologischen Wirkungen und zum Umweltverhalten (z. B. biologischer Abbau im Boden, Adsorption an Bodenbestandteile, siehe: Eintrag und Vorkommen von Tierarzneimitteln in der Umwelt).
Wie die gestufte Umweltbewertung abläuft, ist in zwei VICH-Leitfäden formuliert (VICH = International Cooperation on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Veterinary Medicinal Products). Der erste Leitfaden (VICH GL 6 - Phase I) legt fest, für welche Tierarzneimittelwirkstoffe aufgrund des zu erwartenden Einsatzes überhaupt eine tiefergehende Umweltbewertung (Phase II) durchzuführen ist. Im zweiten Leitfaden (VICH GL 38) sind die Anforderungen an die Phase II der Umweltbewertung formuliert. Die Europäische Arzneimittelagentur hat dazu eine ausführliche technische Anleitung entwickelt, wie die Umweltbewertung durchzuführen ist.
Phase I: Erste Expositionsbetrachtung
Ziel der Phase I ist es, mithilfe eines Entscheidungsbaumes die Tierarzneimittel herauszufiltern, die umweltrelevant sind.
Die Phase I beinhaltet Fragen zur Natur des Wirkstoffs, zur Zieltierart und zum Anwendungsgebiet, zur Anzahl der behandelten Tiere und zur Metabolisierung im Tier.
Folgende Eintragswege von Tierarzneimitteln in die Umwelt werden berücksichtigt:
Ausbringung von tierarzneimittelhaltiger Gülle auf landwirtschaftlich genutzte Flächen,
Eintrag auf Böden und in angrenzende Gewässer durch direkte Ausscheidungen von Weidetieren,
Eintrag auf Böden und in angrenzende Gewässer durch Abfluss nach äußerlicher, lokaler Anwendung (pour-on Lösungen, Dips),
direkte Einträge in Oberflächengewässer durch Anwendung in Aquakulturen.
Am Ende des Phase I – Entscheidungsbaumes wird die theoretisch zu erwartende Konzentration des Arzneimittelwirkstoffs in der Umwelt (Predicted Environmental Concentration = PEC) berechnet. Diese basiert auf einem "Worst-Case-Szenario", also dem schlechtesten anzunehmenden Fall unter Berücksichtigung folgender Annahmen:
Behandlung der höchstmöglichen Anzahl Tiere einer Herde mit maximaler Dosis,
kein Metabolismus im Zieltier,
kein Abbau in der Umwelt.
Überschreitet der errechnete PEC den Schwellenwert von 100 µg/kg für landwirtschaftlich genutzten Boden oder Grünland oder 1 µg/l im Wasserablauf einer Aquakulturanlage, so ist eine vertiefte Umweltbewertung (Phase II) durchzuführen. Für Wirkstoffe, die für die Behandlung von Endo- und Ektoparasiten in Weidetieren zugelassen werden sollen, ist immer eine vertiefte Umweltbewertung mit Schwerpunkt Dungfauna vorzulegen.
Phase II: Vertiefte Umweltbewertung
Im zweiten Teil der Umweltprüfung wird untersucht, ob die Anwendung des Tierarzneimittels zu einem Risiko für Organismen in Böden, Grundwasser und/oder Oberflächenwasser führen wird (siehe: Umweltwirkungen von Tierarzneimitteln).
Bestimmt werden zum einen der mögliche Abbau in Böden, zum anderen das Umweltverhalten anhand physiko-chemischer Eigenschaften wie Wasserlöslichkeit, Hydrolyse, Photolyse, Oktanol-Wasser Verteilungskoeffizient und Adsorptionsverhalten. Mit Hilfe dieser Informationen kann die in Phase I sehr einfach berechnete zu erwartende Umweltkonzentration (PEC) in Phase II verfeinert werden, um einen realistischeren Eintrag und Verbleib in der Umwelt widerzuspiegeln.
Weiterhin werden mögliche Effekte eines Wirkstoffs auf im Boden lebende Organismen wie Pflanzen und Regenwürmer sowie für die Bodenfunktion wichtige Mikroorganismen untersucht. Bei möglichem Eintrag in Oberflächengewässer werden kurzfristige Effekte auf Algen, Wasserflöhe und Fische getestet (siehe: Umweltwirkungen von Tierarzneimitteln). Aus diesen ökotoxikologischen Tests wird die Effektkonzentration abgeleitet, bei der entweder eine 50%ige Hemmung des Wachstums (Algen und Pflanzen) oder der Bewegung (Wasserflöhe) sowie eine 50%ige Mortalität (Fische) eintritt. Im Regenwurmtest wird die Konzentration bestimmt, bei der kein statistisch signifikanter Effekt auf die Reproduktion zu beobachten ist. Aus diesen Effektkonzentrationen unter Berücksichtigung eines Sicherheitsfaktors wird die Konzentration ermittelt, bei der keine Effekte zu erwarten sind (Predicted No Effect Concentration = PNEC).
Risikobewertung und mögliche Maßnahmen
Zur Charakterisierung eines möglichen Risikos wird der zu erwartenden Umweltkonzentration PEC die PNEC gegenübergestellt (= Risikoquotient PEC/PNEC). Der Risikoquotient ist kleiner 1, wenn die zu erwartende Umweltkonzentration niedriger ist als die höchste Konzentration, bei der keine Effekte zu erwarten sind. In dem Fall wird davon ausgegangen, dass bei sachgemäßer Anwendung des Tierarzneimittels kein Risiko für die Umwelt zu erwarten ist. Ist der Risikoquotient größer 1 und ein Risiko kann nicht ausgeschlossen werden, ist eine Verfeinerung der Umweltbewertung z. B. durch Vorlage von zusätzlichen Tests zur längerfristigen Toxizität und/oder Verfeinerung des PEC mit zusätzlichen Abbaustudien (z. B. in Gülle) oder Berücksichtigung des Metabolismus im Zieltier möglich. Am häufigsten hat das Umweltbundesamt schwerwiegende Umweltrisiken bei Antiparasitika, Antibiotika und Hormonen festgestellt (siehe: Umweltwirkungen von Tierarzneimitteln).
Nutzen-Risiko-Bewertung
Sollte auch nach Verfeinerung der Umweltbewertung weiterhin ein Risiko für die Umwelt bestehen, muss dieses in der abschließenden Nutzen-Risiko-Bewertung berücksichtigt werden. Fällt das Nutzen-Risiko-Verhältnis negativ aus, kann - im Gegensatz zu Humanarzneimitteln, bei denen die Umweltbewertung keinen Einfluss auf die Marktzulassung hat - die Zulassung versagt werden. Die Versagung einer Marktzulassung aufgrund von Umweltrisiken ist aber eher die Ausnahme: In der Vergangenheit gab es nur wenige Fälle, z. B. ein Hormonpräparat für Tauben und Antiparasitika-Präparate für Weidetiere, die einen Wirkstoff enthalten, der als persistent, bioakkumulierend und toxisch eingestuft wurde. 2017 wurde das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Wirkstoffs Zinkoxid negativ bewertet. Als Konsequenz dürfen sich spätestens nach 5 Jahren keine Tierarzneimittel mit diesem Wirkstoff mehr im Verkehr befinden.
Bei positiver Nutzen-Risiko-Bewertung werden Auflagen, sogenannte Risikominderungsmaßnahmen (RMM), verhängt, die dazu beitragen sollen, den Eintrag dieser Wirkstoffe in die Umwelt soweit wie möglich zu verringern. Diese werden in den Produktinformationen kommuniziert.
Risikominderungsmaßnahmen
Risikominderungsmaßnahmen müssen wirksam sein und mit den rechtlichen Regelungen der EU und der Mitgliedsstaaten sowie der üblichen landwirtschaftlichen Praxis übereinstimmen. Risikominderungsmaßnahmen können beispielsweise sein:
In den Produktinformationen werden die Risikominderungsmaßnahmen z. B. folgendermaßen vorgegeben (Beispiel Antiparasitika):
„XY kann für Fische und wirbellose Wassertiere toxisch sein. Die Rinder dürfen daher innerhalb von X Tagen nach der Behandlung mit XY keinen Zugang zu Oberflächengewässern wie Bächen, Teichen oder Wassergräben haben. Bei der Ausbringung der Gülle behandelter Tiere auf landwirtschaftlichen Nutzflächen ist ein Mindestabstand von X m zu angrenzenden Oberflächengewässern einzuhalten.“
Das Umweltrisiko von aufgrund positiver Nutzen-Risiko-Analyse zugelassenen Tierarzneimitteln ist in der Fachinformation und auch in der Packungsbeilage unter „Besondere Vorsichtsmaßnahmen“ nachzulesen (siehe: Umweltaspekte bei Verordnung von Tierarzneimitteln). Werden bei oder nach der Anwendung eines Tierarzneimittels negative Auswirkungen auf die Umwelt beobachtet (siehe: Umweltwirkungen von Tierarzneimitteln) sollten diese über das Pharmakovigilanzsystem (siehe: Öko-Pharmakovigilanz) des BVL gemeldet werden (siehe: Umweltaspekte bei Verabreichung von Tierarzneimitteln).